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Was denkt sie sich eigentlich?

Im Moment liegt mein Hund neben mir in der Sonne auf ihrem Kissen - bis eben hat sie noch dezent versucht mich zum Spaziergang zu überreden. Zumindest denke ich das. Vielleicht will sie auch einen Snack oder mal unten vor der Tür ein bisschen in dem verschneiten Wäldchen hinter unserem Haus nach Spuren der Nachbarskatzen schnuppern. So richtig weiß ich nicht was in ihrem Kopf vorgeht.

Aber so richtig sicher bin ich mir da bei meinen Mitmenschen auch nicht immer. Mag sein, dass sie sagen es wäre in Ordnung, wenn ich ein paar Minuten später komme – der Tonfall und die Mimik passen nicht so recht dazu und schon bin ich drin im Mitdenk-Dilemma.

 

Da hat man es als Hundebesitzer einen Tick einfacher – Hunde verstehen unsere Sprache nicht. Im besten Falle können sie sich verschiedene Laute in verschiedenen Lautstärken und Stimmmodulationen merken und mit einem Verhalten verbinden.
Es macht also überhaupt keinen Sinn das ich meinen Hund frage was sie will. Oder ihr erkläre, dass sie die Häschen in Ruhe lassen soll. Oder ihr Konsequenzen androhe, sollte sie auch heute auf der Hundewiese meinen Rückruf eher als saloppen Vorschlag interpretieren anstatt freudig und gehorsam auf der Pfote kehrtzumachen und mir in die Arme zu fliegen.

 

Verstehen sie mich nicht falsch, mein Hund ist sehr schlau. Wie alle Hunde ist sie Meister in nonverbaler Kommunikation. Sie sieht meinen Körper, meine Mimik, weiß meine Muskelanspannung zu lesen und kann den Tonfall meiner Stimme einer Laune oder Stimmung zuordnen.
Wenn ich Glück habe  (und sie mich ernst nimmt) deutet sie meine ‚sonst-kommst-du-ins-Tierheim‘-Schimpftirade sozial richtig und kehrt, vielleicht nicht freudig sondern eher demütig, zu mir zurück um mal zu gucken, was da mit unserer Beziehung grad schiefgeht. Immerhin bin ich ihr doch wichtiger als all das Leben drumherum. Im Idealfall.

 

Wenn ich Pech habe fühlt sie sich unserer Beziehung und vor allem meiner bedingungslosen Liebe sehr sicher– durchaus richtig – und kann entscheiden, dass sie mich mal einen Moment meinen komischen Stimmungen überlassen kann um die gründliche Inspektion des Wühlmausloches befriedigend abzuschließen.

 

Immerhin gelten drinnen ihre Bedürfnisse ja auch mindestens den meinen gleichwertig – ist sie müde bette ich sie auf ein aufgeschütteltes Kissen. Sie ist sehr dünn, also bekommt sie natürlich sofort Futter wenn sie mir suggeriert das ein bisschen Interesse bestehen könnte…Natürlich bringe ich sie vor die Tür wenn sie sich erleichtern muss – da hat sie mein vollstes Verständnis, ich habe die kleinste Blase im Universum, ich kenne das Gefühl. Dass ich dazu die Decke aufschlagen, die müden Füße von der Couch nehmen und den gerade gestarteten Film pausieren muss spielt keine Rolle – immerhin habe ich sie bei mir aufgenommen, also bin ich doch für ihre Bedürfnisbefriedigung verantwortlich.

 

Oder?

 

Was haben Hunde für Bedürfnisse? Ich meine, wirklich? Schlafen, fressen, Laufen? Liebe, Sofa, Bioresonanzfutter?
In meinem Leben zum Beispiel läuft nicht immer alles so glatt und unholprig. Es gibt es weitaus mehr Situationen der folgenden Kategorien:

 

-ich muss etwas tun wozu ich keine Lust habe: Die Buchhaltung zum Beispiel.
-ich muss Geduld haben: Für die Buchhaltung.
-ich will etwas haben, kriege es aber nicht: Jemanden der mir die Buchhaltung macht.
-ich will wohin, darf aber nicht: weg von der Buchhaltung.
-ich muss aufs Klo, es gibt aber keins.
-ich will etwas tun, es ist aber verboten: Betrag schätzen und dem Finanzamt schicken.

Dazu kommen noch alle Situationen, in denen mir meine Wünsche nicht von außen sondern von mir selbst versagt werden. Für manche muss ich mich täglich bremsen – ess nicht zuviel, schlaf nicht so lang, mach den Fernseher aus und lies lieber was..
Andere laufen unterbewusst und automatisch ab – bring keine Leute um zum Beispiel. Ich würde auch nicht im Restaurant mit Essen um mich werfen oder meinen Müll einfach fallen lassen. Dank meiner Eltern habe ich gute Hemmungen und Mechanismen gelernt, die dafür sorgen, dass ich in unserer Welt ganz gut zurechtkomme.

 

Dabei hatten meine Eltern es nicht immer leicht. Mit 16 fand ich es durchaus sozial akzeptabel, eine Diskussion pro/ contra Zungenpiercing lautstark beim Essen in einer fränkischen Wirtschaft auf den Tisch zu bringen. Wortwörtlich. Alle sollten sehen wie spießig und konventionell meine Eltern waren und wie eloquent und schlau meine Argumentationskette.
Ich schieb das jetzt mal auf die Pubertätshormone. Im Großen und Ganzen haben sie mich zu einem umgänglichen und sozialkompatiblen Mitmenschen erzogen.

 

Meiner Meinung nach ist die Erziehung jetzt abgeschlossen, ich bin fast vierzig. Ob sie das auch so sehen weiß ich nicht.

 

Mein Hund ist zwar auch erwachsen – mit 12einhalb Jahren sogar seeehr erwachsen. Die Erziehung hat aber eigentlich nie aufgehört – immer wieder überrascht sie mich mit neuen Ideen und altersbedingten Herausforderungen.
Sie hilft immer noch nicht im Haushalt, kann sich nach wie vor nicht selbst vor die Tür schicken, versteht trotz Autounfall den Kausalzusammenhang Straße=Gefahr nicht und achtet selbstständig nicht auf eine gesunde Bioresonanzernährung sondern lebt einfach nach dem Lustprinzip im Hier und Jetzt.

 

Das bedeutet, wenn hier und jetzt ein Eichhörnchen über die Wiese pest überschlägt sie im Kopf nicht die um sie herum lauernden Gefahren – Autos, Fahrradfahrer, die Gefahr sich zu verlaufen. Und weil sie nach dem Lustprinzip lebt stellt sie ihre Bedürfnisse vor die der anderen – vor die des fliehenden Eichhörnchens oder der Mutter mit den zwei kleinen Kindern, die als sie klein war mal von einem schwarzen Hund gebissen wurde und nun einen gleichfarbigen Pfeil auf sie zufliegen sieht.

 

Um andere vor ihr und sie vor sich selbst zu schützen muss also ich auf den Plan. Warum?
Weil ich, als ich sie aufgenommen habe versprochen habe, mich um ihre Bedürfnisse zu kümmern.

 

Das Bedürfnis auf körperliche und geistige Unversehrtheit.

 

Das Bedürfnis auf Schmerzfreiheit.

 

Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und dem wohlwollenden Anschluss an Menschen.

 

Das Bedürfnis, lustvoll und glücklich zu leben. Dazu gehört, das haben wir alle mehr oder minder schmerzvoll erfahren müssen, auch eine große Portion Geduld und Gelassenheit. Um mit unschönen Situationen einigermaßen glücklich umgehen zu können.

Anouk ist gerade in ihr Körbchen neben mich zurückgekehrt. Sie fand meine Art um sie herumzuschleichen um ein schönes Foto für den Text zu machen irgendwie nervig und hat sich in eine andere Zimmerecke zurückgezogen. Vielleicht fand sie auch meine vorgelesenen Formulierungsversuche unter ihrem Niveau.

 

Neben dem Bedürfnis auf einen Spaziergang hat sie auch oft das Bedürfnis nach Ruhe, einer sozialen Pause, in der sich nicht ständig ein Bediensteter um sie bemüht oder guckt, ob sie irgendein Bedürfnis haben könnte.

 

Mir geht es im Übrigen genauso, wenn ich nach längerer Abwesenheit wieder mal zuhause bei meinen Eltern bin. Ich bin es nicht gewohnt, ständig gefragt zu werden was ich will und meine Mutter ist es nicht gewohnt, das Kind daheim zu haben aber nicht mehr erziehen zu müssen.  Dazu kommt, dass ich meiner Mutter inzwischen komischerweise sehr ähnele – zwei Bedürfnissbefriediger, die sich umeinander drehen.
Wir kriegen das zum Glück ganz gut hin mit der Kommunikation mittlerweile, was dazu führt das ich nicht nur gerne komme sondern auch gerne bleibe. Vor allem wenn wir immer mal ein bisschen Abstand halten und uns um uns selber kümmern.

 

Das mein Hund jetzt wieder neben mir liegt dient übrigens nicht dem Schlaf- oder Ruhebedürfnis. Sie hat ganz eindeutig was im Kopf, das merkt selbst jemand der nicht so sensibel nach Bedürfnissen forscht wie ich das tue: jedes Mal wenn ich mich bewege zuckt ihr Kopf nach oben und sie sieht mich erwartungsvoll an.

 

Ich konzentriere mich tapfer auf den Bildschirm und mein eigenes Bedürfnis. Ich bin grad so gut im Flow. Ich möchte das Kapitel gerne abschließen. Ich hab‘ grad keine Lust aufzustehen, auch wenn draußen herrliches Wetter ist. Es ist Sonntag und vielleicht will ich heute einfach im Schlafanzug auf der Couch rumgammeln. Auch wenn die Sonne so schön scheint. Ich könnte noch die Wäsche aufhängen. Oder die Buchhaltung machen.

 

Anouk schnarcht wieder.

 

Ich weck sie jetzt, ich will raus.